Zu den aktuellen Entwicklungen in und rund um die Ukraine
Die Anerkennung der abtrünnigen sogenannten Volksrepubliken in Donezk und Lugansk durch Russland und die Ankündigung eines Einmarsches russischer Truppen in die Ostukraine scheint diejenigen im Westen zu bestätigen, die aus den russischen Truppenmassierungen seit November die Absicht eines militärischen Angriffs abgelesen haben. In unserer Erklärung vor zwei Wochen sind wir noch – wie viele Friedensforscher*innen und praktisch alle in der Friedensbewegung – davon ausgegangen, dass es Russland „nur“ um Drohung ginge, um der NATO Grenzen aufzuzeigen. Natürlich ist die Anerkennung der Separationsgebiete und auch der Einmarsch von Truppen in sie nicht gleichzusetzen mit einem Angriff auf die gesamte Ukraine. In Donezk und Luhansk war schon 2014 russisches Militär. Aber die Kriegsgefahr ist deutlich gestiegen.
Russland und die NATO, deren Ostweiterung und Stationierung von Truppen in den neuen Mitgliedsländern sicher einer der Ursachen der gegenwärtigen Krise sind, liefern sich ein brandgefährliches Machtpoker, mit Manövern, Truppenverlegungen, Waffenlieferungen und Sanktionsdrohungen als Instrumente.
Es geht auch nicht nur um Kriegsgefahr: In den Separationsgebieten herrscht seit 2014 Krieg; in den letzten Wochen war erneut von einer Zunahme der Waffenstillstandsverletzungen die Rede. (Die Frage, die in unseren Medien nicht wirklich gestellt wurde, ist: Gehen sie alle auf das Konto der Separatisten? Oder waren auch das ukrainische Militär oder Freischärler beteiligt? Die täglichen OSZE-Berichte benennen nur die Verletzungen, nicht die Verantwortlichen.)
Die bange Frage lautet: Wie geht es weiter? Will Russland die gesamten Provinzen Donetzsk und Luhansk erobern, wozu seine Truppen die Demarkationslinien überschreiten müssten und dann gewiss mit ukrainischem Militär zusammenstoßen würden? Will es, wie manche westlichen Politiker*innen fürchten, die gesamte Ukraine unter seine Kontrolle bringen, deren Bevölkerung, wie Putin in einem unsäglichen Elaborat im Sommer 2021 schrieb, ‚ein Volk mit Russen und Belarussen sei‘? Was ist mit den Truppen in Belarus? Werden sie wieder abziehen, oder will Putin die Gelegenheit nutzen, gegen den Willen von Diktator Lukaschenko die seit langem auf dem Papier geplante Vereinigung beider Länder zu vollziehen? Niemand kann diese Fragen im Moment sicher beantworten. In den vergangenen Wochen mussten wir mehrfach erleben, dass angeblich auf Geheimdienstinformationen beruhende Einmarschtermine in die Ukraine („noch vor dem Ende der olympischen Spiele“, „in den nächsten x Tagen“) Fake News waren.
Eines ist offensichtlich: Es scheint sich zu wiederholen, was vor fünfzehn Jahren in Georgien passiert ist. Dort waren es zunächst russische Truppen mit einem Mandat der UN, die in Südossetien und Abchasien als „Friedenstruppen“ stationiert wurden; doch noch dem (vergeblichen) Angriff Georgiens zur Rückeroberung Südossetiens 2008 blieben diese Truppen, den Bürger*innen der beiden Provinzen wurden russische Pässe angeboten und bis heute gehören diese Gebiete zu den „eingefrorenen Konflikten“ im postsowjetischen Raum. Der BSV hat zu dem Thema eingefrorener Konflikte vor einem Jahr ein Hintergrund- und Diskussionspapier veröffentlicht, das hier bei uns heruntergeladen werden kann.
Das Opfer des Konflikts sind die Menschen in den betroffenen Ländern. In der Ukraine, in Donetzk und Luhansk und auch in Russland. Sie werden in nationalistischen Diskursen von Russland wie von der Ukraine vereinnahmt. Abweichende Stimmen können bestenfalls in anonymen Umfragen erhoben werden: So fand das Berliner ZOIS bei einer Telefonumfrage 2019 heraus, dass 55% der Bevölkerung in den Separationsgebieten zur Ukraine gehören wollen. Pazifist*innen und Kriegsdienstverweigerer in der Ukraine sind, falls sie sich offen bekennen, Verfolgung ausgesetzt. Und auch in Russland ist jede Opposition Verfolgung und Unterdrückung ausgesetzt; erst vor kurzem wurde eine Reihe von auch international anerkannten Menschenrechtsorganisationen wie Memorial verboten.
Ein Konfliktziel hat Russland schon erreicht: Es hat der NATO deutlich gezeigt, welchen Preis sie für eine Aufnahme der Ukraine (und Georgiens) zahlen müsste. Ein Preis, den sie nicht zu bezahlen bereit ist, denn wenn die Ukraine einmal Mitglied der NATO wäre, dann müssten deren Mitglieder ihr militärisch beistehen.
Aus der Friedensbewegung sind seit dem 22.2. viele Aufrufe zu Protesten veröffentlicht worden. (Sie werden gesammelt vom Netzwerk Friedenskooperative.)
Eine sehr lesenswerte Analyse aus friedenslogischer Sicht hat die Plattform Zivile Konfliktbearbeitung kurz vor dem 22.2 herausgegeben.
Erklärungen und einen Artikel von russischen und ukrainischen Pazifist*innen aus den letzten Tagen und Wochen gibt es auf der Seite von Connection e.V. (und einen weiteren auf Englisch bei den War Resisters‘ International).
Zu den Vorschlägen und Forderungen, die jetzt gemacht werden, gehören neben eindringlichen Appellen an alle Seiten, nicht weiter zu eskalieren.
- Alternativen Stimmen– der Pazifist*innen aus Russland und der Ukraine Gehör verschaffen
- Angebot von bedingungslosen Gesprächen auf politischer Ebene, zum Beispiel einer großen Konferenz auf OSZEEbene. Die Probleme der gesamten Region hängen zusammen und können nur gemeinsam gelöst werden, deshalb ist die OSZE so wichtig.
- Glaubhafte Angebote der Rüstungskontrolle
- Verzicht auf Sanktionen, die die Bevölkerung Russlands treffen statt der Machthaber.
- Keine Unterstützung von Aufrüstung in der Ukraine oder den NATO-Staaten in der Region
- Rückzug der Truppen von den Grenzen und Demarkationslinien
- Aufhören, in Blöcken zu denken und mit zweierlei Maß zu messen, sich in die Gegenseite hinein versetzen. Mit praktisch den gleichen Worten, mit denen am 22.2. Politiker*innen das russische Vorgehen kritisierten, hätte auch der Angriff auf den Irak 2003, auf Afghanistan 2001 usw. verurteilt werden können. Wahrheit ist bekanntlich das erste Opfer in Kriegen, und Glaubwürdigkeit eine der Vorbedingungen eines Friedensprozesses. Diese Glaubwürdigkeit haben Russland wie NATO seit langem verspielt; sie muss durch glaubwürdiges Handeln, nicht durch Regierungserklärungen oder Twitternachrichten wieder hergestellt werden.
Textentwurf von Christine Schweitzer (Geschäftsführerin des BSV), in Konsultation mit dem BSV-Vorstand).