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Vor 100 Jahren endete die militärische Besetzung des Ruhrgebiets gewaltfrei

Foto: „Nein! Mich zwingt Ihr nicht!“ – Protestplakat 1923 Autor/-in unbekannt – Haus der Deutschen Geschichte

Weimarer Republik wehrte sich mit passivem Widerstand und Diplomatie

Ulrich Stadtmann

Dr. Barbara Müller, eine der Vorsitzenden des Instituts für Friedensarbeit und Gewaltfreie Konfliktaustragung, schreibt unter dem Titel „Kämpferische Demokratie“ in ihrem neuesten Buch spannend und allgemeinverständlich über ein Kapitel der deutschen Geschichte, das weitgehend vergessen wurde.

Die junge Weimarer Demokratie war 1923-25 mit dem militärischen Einmarsch von französischen und belgischen Truppen und der Besetzung des Ruhrgebiets konfrontiert. Die Reichsregierung und die Führung der Reichswehr waren sich einig, dass militärischer Widerstand aussichtslos und für die Bevölkerung in diesem Ballungsgebiet eine Katastrophe sei. Deswegen wurde zu gewaltlosem passivem Widerstand an den Arbeitsplätzen in Betrieben und Verwaltungen aufgerufen. Bekannt war damals, dass die Verweigerung der Zusammenarbeit durch Streiks, wie sie von der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung angewandt wurde, dem Gegner einen ökonomischen Schaden zufügen und ihn zum Nachgeben bewegen konnte. Hinzu kam die Erfahrung mit den unerfüllbar hohen Reparationsleistungen, die Deutschland nach dem 1. Weltkrieg gemäß des Vertrags von Versailles an Frankreich und Belgien zu liefern hatte.

Deutscher Zivilist und französischer Besatzungssoldat vor dem Essener Hauptbahnhof, 1923 Bundesarchiv, Bild 183-R09876 / CC-BY-SA 3.0

Dagegen entwickelten die staatlichen Verwaltungsebenen eine Verweigerung der Zusammenarbeit in Form des gewaltlosen, passiven Widerstands. Frankreich drohte dagegen militärische Gewalt einzusetzen, um Kohle und Stahl aus dem Ruhrgebiet im verlangten Maße zu erhalten. Am 11. Januar 1923 begann die Besetzung. Der Widerstand ging in eine offene Nichtzusammenarbeit über. Es gab für die Besatzer nicht den Nutzen, den sie aus der Arbeit der Bevölkerung erzielen wollten.

Die internationale Stimmung wendete sich gegen Frankreich und wurde verständnisvoller gegenüber der neuen deutschen Republik. Der Widerstand musste dennoch im Sommer 1923 eingestellt werden, da auch die Nachteile für die Bevölkerung zu hoch wurden, denn durch die Einstellung der Arbeit konnte die Versorgung nicht mehr gewährleistet werden, und die Inflation im gesamten Deutschen Reich erreichte exorbitante Höhen. Die Reichsregierung konzentrierte sich seitdem darauf, die Wirtschaft zu stabilisieren und durch Diplomatie mit Unterstützung der USA und Großbritanniens den Truppenabzug bis zum Sommer 1925 zu erreichen.

Kundgebung gegen die Ruhrbesetzung auf dem Berliner Königsplatz am 25. März 1923 Bundesarchiv, Bild 102-00022 / CC-BY-SA 3.0

An der Person des Essener Oberbürgermeisters Hans Luther wird die Entwicklung der gewaltlosen Mittel gegen die militärische Besetzung besonders deutlich. Gegenüber den französischen Offizieren erhob er Einspruch gegen die Gewalt. Sein Amt als Oberbürgermeister konnte er nicht weiter ausüben, aber zugleich war er Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft. In dieser Funktion organisierte er die Versorgung des Ruhrgebiets. Ab Herbst 1923 trug er als Finanzminister im Kabinett Stresemann zur Währungskonsolidierung nach der Zeit der Hyperinflation bei, bevor er selber 1925 Reichskanzler wurde. Als „Symbolträger des passiven Widerstands“ nahm er an der offiziellen Befreiungsfeier am 17. September 1925 in Essen teil.

Streik und passiver Widerstand waren erprobte und allgemein bekannte Widerstandsmethoden, die schon 1920 binnen vier Tagen den Kapp-Putsch gegen die Reichsregierung scheitern ließen. Barbara Müller schreibt darüber: „Beamte verweigern offen die Zusammenarbeit mit den Putschisten und sprechen ihnen jegliche Autorität ab.“

Vorbeimarsch abziehender französischer Truppen am Dortmunder Hauptbahnhof, Oktober 1924 Bundesarchiv, Bild 102-00772 / CC-BY-SA 3.0

In der heutigen Zeit, in der Demokratien auch durch militärische Angriffe bedroht sind, werden vielfach nur Krieg oder Kapitulation als Reaktionsmöglichkeiten gesehen. Demgegenüber ist dieses Buch eine ganz wichtige Erinnerung, dass gewaltfreier Widerstand und Diplomatie wirksame Methoden gegen einen Aggressor sind, der ein Land und seine Bevölkerung beherrschen will.

Barbara Müller tritt überzeugend dem Vorurteil entgegen, dass die Weimarer Republik eine Demokratie ohne Demokrat*innen gewesen sei. Es waren viele, und sie kämpften für die Demokratie. Das sollte uns Vorbild sein. Dennoch scheiterte die Demokratie binnen weniger Wochen gegenüber der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933. Das sollte uns Warnung sein, die Gefährdung der Demokratie, des Rechtsstaats und der Menschenrechte nicht zu unterschätzen. Es sollte uns Ansporn sein, uns jetzt zu engagieren und wachsam zu bleiben.

Ulrich Stadtmann ist Vorstandsmitglied im Bund für Soziale Verteidigung. Dieser Artikel erscheint in der nächsten Ausgabe (2/2025) unseres Rundbriefs.

Barbara Müller (2025): Kämpferische Demokratie. Militärische Besetzung und gewaltlose Befreiung des Ruhrgebiets 1923-1925
Irene Publishing, ISBN 978-9189-9262-02

214 Seiten, 21,27 Euro auch über den BSV

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